LESEPROBE

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Das Goldene Zauberschwert und der Beginn der Dunkelheit

Jagdzeit

Unsere Geschichte spielt im Jahre vierhundertfünfzig nach Null. Wir befinden uns im Lande Skandidafiena, genauer: in einer Stadt namens Tralleri.

Etwas außerhalb dieser Stadt hatten sich die Bauern angesiedelt. Sie lebten in Holzhütten, deren Dächer mit Stroh bedeckt waren. In den Seitenwänden befanden sich kleine Rauchlöcher, damit der Rauch abziehen konnte, wenn in den kleinen Stuben gekocht wurde.
Das Ackerland der Bauern war zweigeteilt: Auf der einen Hälfte wurde Getreide angebaut, auf der anderen hingegen nichts, damit der Boden sich wieder erholen konnte. Man spricht hierbei von brachliegen.
Von der heute üblichen Dreifelderwirtschaft hatte damals noch niemand gehört. In einem der genannten Bauernhäuschen lebte ein Junge namens Merler, die Hauptperson unserer Geschichte.

Merler war ein durch und durch gewöhnlicher Junge: vierzehn Jahre alt, schlank, braunhaarig. Das Ungewöhnliche an Merler waren die Visionen, welche er in unregelmäßigen Abständen bekam, oft in seinen Träumen. Wenn er deswegen schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte und nach seinem Vater rief, reagierte dieser stets mit Wut, hinter welcher die Angst lauerte. Was die Menschen nicht verstehen, macht ihnen Angst. Das war damals nicht anders als heute.
Merler hatte eine Schwester, die Gremel hieß und sechzehn Jahre alt war, und einen Bruder namens Arno. Arno war schon siebzehn.
Merlers einziger Freund hieß Rada, ein gleichaltriger, ebenso braunhaariger und ebenso gewöhnlicher Junge wie er selbst.

An diesem ersten sonnigen Frühlingstag, an dem die Geschichte beginnt, begann auch die Jagdzeit.
Merler lag in seiner ärmlichen Kammer auf dem Bett und war wie so oft tief in Gedanken versunken, als sein Vater mit seiner dröhnenden Stimme rief: «Merler! Komm endlich runter!» Merler fuhr aufgeschreckt hoch und stieß mit dem Kopf gegen die Wand. Er rieb sich die Stirn, schlüpfte rasch in seine Schuhe und rannte aus dem Haus.
Draußen stand Vater mit vor Ungeduld verzerrter Miene, neben ihm der Rest der Familie. «Wo warst du?» fragte Merlers Vater langsam und erhob drohend seinen rundlichen, einer Wurst nicht unähnlichen Zeigefinger.
«Ich dachte über eine Vision nach, die ich heute Nacht hatte», sagte Merler unvorsichtig. «Das Land Alambinea wurde angegriffen, von scheußlichen Kreaturen.»
«Ach, tatsächlich?» fragte Arno spöttisch. «Hat unser kleiner Bruder wieder Alpträume und muss getröstet werden? Soll ich?»
«Still!» wurde er von seiner Mutter unterbrochen. Und der Vater flüsterte Merler in bedrohlichem Ton ins Ohr: «Du lässt uns mit diesen verfluchten Visionen zufrieden!»
«Ja, Vater», sagte Merler leise. «Ich versuche es.»
«Du versuchst es nicht, du tust es!» donnerte der Vater. «Und zwar ab sofort! Hast du mich verstanden? So, hier sind Köcher und Bogen für dich. Nimm.» Merler blickte auf den mit Pfeilen gefüllten Köcher, welchen ihm der Vater reichte, und schwieg.
«Vater?, meldete sich abermals Arno zu Wort, «meine Bogensehne ist kaputt. Einfach zerrissen.»
«Das kann doch nicht wahr sein?, seufzte der Vater. «Dann müssen wir also in die Stadt.»

Merler spürte eine stille Freude in sich aufwallen. Er ging gerne in die Stadt, denn dort gab es eine Menge interessanter Dinge zu sehen.
«Gehen wir etwa alle zusammen?» fragte Arno mit einem missgünstigen Blick auf seine jüngeren Geschwister. Die Mutter sah ihn strafend an.
«Ja, natürlich», antwortete sie. «Alle zusammen.»

Die Stadt lag auf der Spitze eines hohen Hügels, geschützt von dicht stehenden Bäumen. Von unten konnte man - abgesehen von den Fahnen - nichts von ihr sehen. Als Merlers Familie nach einem tüchtigen Fußmarsch endlich am Tor anlangte, herrschte innerhalb der Mauern geschäftiges Treiben. Wohin man auch blickte, es wimmelte nur so vor Leuten. In den meisten Geschäften hatten sich lange Warteschlangen gebildet. Das war typisch für den Frühling: alles strömte in die Stadt, die langsam wieder zum Leben erwachte.
Merlers Mutter warf ihrem Mann einen besorgten Blick zu.
«Es bleibt noch nicht besonders lange hell», gab sie zu bedenken. «Bis wir die Waffenschmiede erreicht haben?»
«Ich kenne eine Abkürzung», beruhigte sie der Vater. «Bleibt dicht hinter mir.»

Sie ließen das Getümmel hinter sich und durchschritten eine schmale, totenstille Gasse. Die Häuser der Leute, wirkten dunkel und abweisend. Die gesamte Gasse machte dadurch einen unheimlichen Eindruck.
Die Gasse mündete in einer breiten Straße, welche zu beiden Seiten von Läden gesäumt war. Die Läden warben mit bunten, seltsamen Waren um Käufer, doch auch hier waren nicht viele Menschen unterwegs.
«Die Waffenschmiede gehört einem Bekannten von dir, nicht?» fragte Merler seinen Vater. «Wie heißt er?»
«Habe ich dir nie von ihm erzählt? Sein Name ist Markolo.» Vor einem kleinen Laden blieb der Vater stehen. «Hier wären wir», rief er, «dies ist Markolos Laden.»

Merler ließ seinen Blick über die Fassade des Ladens gleiten. Grün war sie, und übersät mit schmutzig roten Flecken.
Er folgte seinen Eltern hinein, neugierig, was ihn wohl erwarten würde. Das Innere des Ladens wirkte richtig gemütlich. In einem Kamin knisterte ein Feuer, und es war angenehm warm.
An der Theke war niemand zu sehen. Es dauerte aber gar nicht lange, da stürzte ein großer, dürrer Mann durch eine im Hintergrund verborgene Tür. «Was darf es denn sein, was darf es?» begann er geschäftig. Als er jedoch gewahrte, wer vor ihm stand, brach er mitten im Satz ab, und ein Lächeln überzog sein Gesicht.
«Mein Freund? rief er fröhlich. «Wie schön, dich zu sehen! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.»
«Ich würde dich nie vergessen», sagte Merlers Vater ernst. «Das weißt du.»
Markolo nickte lächelnd. «Was führt dich nun zu mir?»
Der Vater legte Arnos zerrissene Bogensehne auf den Ladentisch. «Ich brauche eine neue Sehne», sagte er. «Mit dieser hier ist nichts mehr anzufangen.»
«Nein, das sehe ich», erwiderte Markolo. «Für eine neue Sehne bekomme ich fünf Bronz und dreißig Scha.»
Merlers Vater kniff die Augen zusammen. «So viel kostet es jetzt?» fragte er ungehalten. «Kannst du mir keinen günstigeren Preis machen?»
Markolo schüttelte bedauernd den Kopf. «Nein», entgegnete er. «Es tut mir Leid, Freund. Die Steuern sind erhöht worden, und ich muss sehen, wo ich bleibe.»
«Nicht schon wieder!» schimpfte der Vater. «Wann haben sie die Steuern zuletzt erhöht ? war es nicht im Herbst? Und nun erneut? Wie viel verlangen sie denn?»
«Sieben Bronz», sagte Markolo mit einem tiefen Seufzer. Merler sah seinen Vater leicht zusammenzucken.
«Wie bitte?» fragte er. «Das ist doch nicht dein Ernst??
Markolo nickte grimmig. «Oh doch.»
Merlers Vater zuckte resigniert die Achseln und drückte Markolo den erwünschten Betrag in die Hand.
«Ich danke dir», sagte Markolo. Während er dann eine passende Sehne für Arnos Bogen hinterm Verkaufstisch hervorholte, schauten Merler und seine Geschwister sich im Laden um. Besonders für Merler war das alles sehr interessant: die Schwerter, die Bögen, unzählige andere Waffen.
Markolo reichte Arno eine neue Sehne. «Hier, mein Junge», sagte er. «Ich wünsche dir damit viel Erfolg bei der Jagd.»
Die Familie verabschiedete sich von Markolo. Sie verließen den Laden, und verließen die Stadt.

Am Waldrand angekommen, blieb Merlers Mutter stehen und legte ihrem Mann die Hand auf die Schulter.
«Wir werden uns nun trennen», sagte sie. «Gremel und ich haben beschlossen, Beeren zu sammeln, während ihr jagen geht.»

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