Eine ungewöhnliche Reise

– mit dem goldenen Zauberschwert im Gepäck!

Wenn sie sich dafür interessieren, was auf der Ausstellung  Ich sehe was, was du nicht siehst  alles gezeigt wurde: Es gibt einen sehr schön gestalteten, umfassenden Katalog dazu.


Ich sehe was, was du nicht siehst

Eine Werkschau von Künstlerinnen und Künstlern mit Autismus

akku - Autismus, Kunst und Kultur - Eine Initiative von Autismus Deutschland e.V.

Verlag Kerber Art

ISBN 978-3-86678-428-4


Abfahrt und Ankunft

Klar haben wir uns riesig gefreut, als wir eine E-Mail mit der Einladung zur Künstlerausstellung „akku“ in Kassel bekommen haben. Jonathan sollte dort in einer Matinee – das ist eine künstlerische Veranstaltung am Vor- oder Nachmittag – einen Teil seiner Geschichte lesen.

Nach ein paar Tagen Planung - und das ist gar nicht so einfach, wenn verreisen eine Ausnahme ist - passte endlich alles. Ein lieber Nachbar entwarf uns noch ein tollen Flyer.

Die Vorbereitungen nahmen Gestalt an, und es war herrlich mit der Aussicht auf ein einzigartiges Wochenende zu leben. Dennoch beschloss ich mich erst richtig zu freuen, wenn wir im Zug nach Kassel sitzen.

Da ich zwei Kinder mit Asperger Autismus habe, bedeutet verreisen zu wollen schon eine Menge Planung. Warum? Jonathan schafft Zug fahren ganz gut. Wenn er sich in ein interessantes Buch vergraben kann, stören ihn die Menschen drumherum nicht. Meine Tochter wiederum ist da ganz anders. Sie schafft Zug fahren nur mit großer Mühe, wird fast verrückt wenn im Abteil jemand sitzt der raucht, oder in Ihren Augen komisch gekleidet ist. Sie muss genau wissen, wann der Zug wo hält - und wehe der Zug hat Verspätung oder der Schaffner sagt nicht alle Haltestellen an! Kurz um, es wäre für Sie nicht möglich gewesen mit zu gehen, denn die vielen fremden Menschen und die vielen nicht gewohnten Eindrücke, das hätte sie nicht geschafft.

Meine Tochter, das stand schon fest, würde an diesem Wochenende in einer Freizeit sein, das passte also auch.

Es war alles gepackt und nur noch eine Nacht trennte uns von der Reise nach Kassel, ich freute mich einfach. Dementsprechend schliefen wir beide wohl nicht sonderlich gut, wie sagt man so: Reisefieber. Um kurz nach fünf stand ich auf, gewissenhaft überprüfte ich unsere schwere Tasche, Bücher wiegen nicht wenig. Allerdings wäre es schlauer gewesen, das Gepäck auf zwei kleinere Reisetaschen zu verteilen, diese Erkenntnis kam dann doch eindeutig zu spät! Ein bisschen schmunzeln musste ich, als ich ein paar aufgebackene Wecken mit Käse und Wurst belegte: ja, Reisefieber.

Um den Zug nach Kassel ja nicht von hinten zu sehen und den ungewohnten Reisestress in Grenzen zu halten, fuhren wir in Biberach schon 2 Züge früher nach Ulm. So hatten wir noch Zeit, nach etwas Lesbarem zu schauen.

Landschaftsbild

Endlich im ICE nach Kassel. Es war wie so oft in diesem Jahr ein richtig verregneter Tag, also kein Grund um sauer zu sein über 5 Stunden im Zug sitzen zu müssen. Unser Abteil fanden wir auch gleich, zu zweit hieften wir die schwere Tasche über den Sitz, wo sie gerade so reinpasste. Erleichtert setzten wir uns hin. Zwei Fensterplätze, herrlich. Ich frage Jonathan ob er sich freue. Oh ja, sagte er mit grinsendem Gesicht. Kassel ist bestimmt schön. Es sollte Wirklichkeit werden. Ein ganzes Wochenende nur wir beide. Mein mittlerer Sohn fand das auch nicht schlecht - sturmfreie Bude, so waren alle versorgt. Auf nach Kassel!

Der Regen schien ein richtiges Muster an die Scheiben des Abteils zu werfen, fast schon dämmrig durch die dunklen Wolken .Irgendwie war ich statt entspannt ganz schön aufgeregt. So viel Zeit hatten wir, selbst wenn wir pünktlich ankommen, in Kassel gar nicht. Am Nachmittag waren wir zur Eröffnungsfeier eingeladen. Also dachte ich, um mich abzulenken, über so manches nach. Wenn ich mir Jonathan heute so anschaue: Keiner würde auf den ersten Blick erkennen, welche Schwierigkeiten alleine wir beide gemeistert haben. Es hätte keiner zu hoffen gewagt, dass er einen sehr guten Hauptschulabschluss schaffen würde! Dass er, was er liest, einmal begreifen würde und sogar Fantasiegeschichten zu Papier bringen kann. Ich weiß noch gut, als wir ein Verlag fanden und dieser die Veröffentlichung übernahm. Es gibt besondere Menschen und wir sind schon einigen begegnet! Als ich ein druckfrisches Exemplar in der Hand hielt konnte ich ein paar Tränen kaum verbergen. Es ist immer noch etwas ganz besonderes! Jonathan entdeckte die Freude vor Publikum vorzulesen, obwohl das Autisten eher schwer fällt ...

Wir fuhren in einen Bahnhof ein und es entstand eine gewisse Unruhe in den Gängen. Immer wieder wurden Türen der Abteile aufgeschoben.Voll war unser Abteil nicht, zu viert saßen wir hier. Jeder auf seine Weise in Gedanken versunken. Irgendwie musste ich kurz eingenickt sein. Erst jetzt bemerkte ich einen gegenüber sitzenden Fahrgast, dieser Mann hatte etwas Ungewöhnliches an sich, nur einfach ansprechen wollte ich Ihn auch nicht, schon gar nicht wenn dieser in ein Buch vertieft ist. Doch nach einiger Zeit begann er interessiert zu fragen wohin wir fahren, es entstand ein nettes Gespräch. Jetzt war es klar, als er erzählte er sei ein Künstler aus Berlin. Herrlich über Kunst zu sprechen, da ich selbst ein bisschen Hobbymaler bin - so wie es eben die Zeit erlaubt. Wobei es da schon sehr teure Materialien gibt, mir müssen die günstigsten reichen!

Straßenzug in Kassel

So verging die Zeit wie im Flug und ganz unbemerkt wurde es draußen heller. So kamen wir kurz vor 12 Uhr in Kassel an. Dort zeigte sich sogar blauer Himmel. An der S-Bahnhaltestelle angekommen versuchten wir Landeier mit den Fahrscheinautomaten klar zu kommen, gar nicht so einfach, wir fragten uns halt durch. Plötzlich stand ein junger Mann vor mir und fragte, ob ich für Ihn 1 Euro hätte, er bräuchte dringen Fahrgeld. Na ja dachte, ich warum nicht, und gab Ihm einen Euro. Ja, man lernt nie aus, er fragte weiter, und erst jetzt begriff ich, dass dies nichts anderes war als ein Bettler.

Als wir am Königsplatz ausstiegen waren wir überwältigt von den vielen schönen alten Häusern. Jonathan sagte fröhlich: Toll! Schauen wir morgen Kassel genauer an. Ja, auf jeden Fall! Der Samstag war ausgebucht um wenigstens Kassel ein bisschen zu sehen. Jonathan liebt es, Städte anzuschauen.

Es dauerte nicht lange um unser Quartier für zwei Nächte zu finden. Wir hatten das Glück, privat eine nette Bleibe mitten in Kassel zu finden, gerade mal 5 Minuten zur Documenta-Halle.

Wir aßen unser letztes Vesper und beschlossen noch etwas Lebensmittel für das Abendessen zu besorgen. Dann blieb nicht mehr viel Zeit. Um 14 Uhr war die Eröffnung angekündigt. Es war nicht schwer die Halle zu finden. Nach einer kurzen Suche wo wir die mitgebrachten Bücher abgeben konnten und einer kurzen Unterhaltung mit Frau Dietz (Leitung) schauten wir uns ein wenig um.

Eine beeindruckende Halle. Im Eingangsbereich waren unzählige Stühle aufgebaut und es füllte sich langsam mit Menschen. Ein buntes Treiben. Vorne waren Kameramänner, die wohl einiges aufzeichnetet. Es waren auch einige Reporter zu sehen. Es folgten einige Ansprachen, kurze Vorträge. Zwischendrin spielte ein Asperger Autist Klavier, er konnte das absolut gut und es war einfach schön zuzuhören. Allerdings konnte ich mir den Namen nicht merken. Es war sehr interessant, aber letztendlich doch eine Erleichterung wieder aufstehen zu können. In einer kleinen Cafeteria gab es kleine Kuchen und Kaffee oder andere Getränke. Wir nutzten die Gelegenheit um in Ruhe die Ausstellung anzusehen.

Eine gigantische Anzahl von Bildern, Skulpturen, Texten und kleinen Filmen von den verschiedenen Künstlern verteilten sich in der großen Halle. Eine wirklich sehenswerte Ausstellung. Mache Bilder erinnerten mich an die Zeit, als Jonathan nur Striche und Zahlen malte. Eigentlich wäre am Abend noch ein Konzert gewesen, das war uns beiden aber eindeutig zu viel. Also zogen wir uns in unsere Unterkunft zurück und nach einem einfachen Abendessen und ein kleinem Spaziergang ließen wir den Abend ausklingen. Sehr spät wurde es an diesem Abend nicht.

Bild eines alten Gebäudes in Kassel

Natürlich schläft man wo anders nicht so gut wie zu Hause, es waren auch einfach viele Eindrücke, so viel an einem Tag zu erleben war für uns nicht alltäglich!

Am nächsten Morgen schien die Sonne fordernd auf mein Gesicht, es gab keine Jalousien von außen, nur von innen, diese verdunkelten das Zimmer nicht wirklich. Nach einer Dusche war ich für diesen Tag – der ja uns beiden gehören sollte – startklar. Nach einem späten Frühstück beschlossen wir noch ein Paar Getränke und etwas für die morgige Rückreise zu besorgen. Um die Mittagszeit aßen wir in einer Pizzeria auf einer schönen Außenterasse, das Wetter schien nach tagelangem Regen einfach endlich mal wieder schön zu werden. Einfach herrlich, nur ein feiner Wind verriet, dass es die letzten Tage eher kalt war. Nebenbei unterhielten wir uns noch über den ereignisreichen Tag gestern, und wie wir den restlichen Tag nutzen wollten.

Es gibt fünf Museen in Kassel. Jonathan äußerte den Wunsch, das Stadtmuseum zu erobern. Leider hatte dies wegen Umbau geschlossen. So beschlossen wir, in das Museum für Physik und Chemie zu gehen. Auf dem Weg zum Museum liefen wir durch ein herrlichen Park. Nach so viel Regentagen schien selbst das Grün der Blätter leuchtender. Es war einfach ein herrlicher Anblick.

Staatstheater in Kassel

Im Museum selbst hatten wir das Glück, gleich im dortigen Planetarium eine Vorführung über Sternbilder zu sehen. So weiß ich nun, dass wenn ich im Juli Geburtstag habe, das Sternbild erst ein halbes Jahr später bei uns am Himmel zu sehen ist. Bestimmt drei Stunden staunten wir nicht schlecht über die alten Teleskope, Computer, ja sogar Turmuhren bis hin zur kleinsten Taschenuhr - natürlich jedes ein besonderes Stück - waren dort zu bewundern. Es war nicht viel los, und so kamen wir in den Genuss, dass uns eine dortige Aufsichtsperson Einiges zu verschiedenen Stücken erzählen konnte. Wieder in der Stadt, suchten wir uns ein Café mit Blick zum Park, einfach unbeschreiblich herrlich!

Sogar für Musik sorgte ein Alleinunterhalter. Er sang bekannte Titel und nicht selten bekam er dafür auch angemessenen Applaus. Ich entschied mich für einen Eiskaffee und Jonathan für 3 verschiedene Eiskugeln. Das Café war in netten kleinen Sitzeinheiten umrandet von Bäumen, so dass es auch möglich, war ein nicht zu sonniges Plätzchen zu erhaschen. Als wir so dasaßen und uns sehr angeregt über den Museumsbesuch und die Ereignisse der Eröffnung unterhielten, konnte ich es fast nicht verbergen, ein paar Freudentränen. Schnell tat ich so, als ob ich die Brille putzen müsste. In diesem Augenblick merkte ich wie anders mein Alltag doch oft ist und wie selten Platz ist für solche besonderen Augenblicke. Seit langem war mir noch nie so bewusst geworden, dass die Zeit genauso schnell an mir vorbeigeht, und wie wichtig es trotz allem ist, besondere Augenblicke zu schaffen.

Den restlichen Tag bummelten wir und staunten über große Kaufhäuser und so manches schöne alte Bauwerk. Am Abend waren wir echt platt, nach ein bisschen fernsehen gingen wir zeitig ins Bett, schließlich wartete morgen ein weiteres besonderes Ereignis auf uns!

Jonathan vor dem Motto der Veranstaltung

Sonntag Vormittag

Klar waren wir früh wach, etwas Aufregung machte sich bemerkbar. Nach einem gemütlichen Frühstück waren wir auch schon wieder am Packen, denn nach der Lesung hieß es wieder: Ab nach Hause. Gerüstet für die Heimfahrt blieb noch etwas Zeit für ein kurzes Üben des Textes den Jonathan lesen sollte, immerhin waren das einige Seiten aus seiner Geschichte. Auf die Frage, ob er aufgeregt sei, kam nur ein kurzes „ein wenig“ zurück.

Kurz nach 10 Uhr waren wir an der documenta-Halle. Bei strahlendem Sonnenschein knipsten wir noch einige Bilder. Nach einer kurzen Besprechung mit Frau Dietz blieb noch Zeit für ein nettes Gespräch mit zwei jungen Frauen, die auch aus Ihren Werken vorlasen. Das war für mich in sofern besonders, da es in mir die Hoffnung wachsen ließ, dass meine Tochter ein ganzes Stück Offenheit lernen kann und mit Sicherheit Ihren Weg finden wird. Es gilt nur, das Besondere zu entdecken, das Ihr Mut gibt.

Die Lesung fand in einem kleineren, dunklen Raum statt. Zwei Helfer waren mit der Einstellung von Scheinwerfern und Mikrofonen beschäftigt. Nach einer Sprechprobe füllte sich auch langsam der Raum. Zwischen 30 und 40 Zuhörer fanden sich ein.Es wurde leise, als Frau Dietz die kleine Bühne betrat. Ich weiß nicht wer aufgeregter war - ich oder Jonathan. Das besondere war, dass Susanne Pätzold - eine bekannte Schauspielerin - Texte für andere Autoren vorlas, die nicht so gut sprechen konnten. Die Texte kamen gut an.

Jonathan und Frau Pätzold

Es war ein besonderes Erlebnis zu spüren, dass jeder Autist seine Welt anders empfindet. Während Jonathan Fantasiegeschichten schreibt und auf der anderen Seite schwer über Gefühle schreiben kann, beschreiben andere Autisten sehr genau wie sie sich sehen und die Welt drumherum empfinden. Nach der Lesung hatten wir Gelegenheit mit Frau Pätzold kurz zu reden und ein Foto zu knipsen. Was schön war, sie kaufte doch glatt ein Buch von Jonathan.

So, nun galt es sich zu verabschieden, noch kurz zur Unterkunft und den Schlüssel abgeben. Zum Bahnhof war es nicht weit. Als wir letztendlich im Zug Richtung Heimat fuhren, hatten wir keine Bücher mehr im Gepäck, aber einige schöne Erlebnisse die uns noch lange begleiten werden! Diesmal war die Zugfahrt anstrengender, der Zug war sehr voll. Doch eines war wirklich herrlich: Die Ansage des Zugfahrers war etwas zum Schmunzeln. Es sollte wohl Englisch sein. Zuerst zweifelte ich, ob nur ich das als schiefes Englisch empfand. Doch als sogar alle im Gang lachten, wusste ich, dass ich wohl auch nicht schlechter Englisch sprach. Nur würde ich mich nie trauen eine Ansage zu machen.

Zu Hause angekommen gab es viel Erzählstoff, und obwohl wir beide wohl echt müde waren ist dies ein unvergessliches Erlebnis gewesen!!

Die Ausstellung ging über 4 Wochen und 7000 Besucher waren begeistert. Ein Herzliches Dankeschön an alle, die sich so viel Mühe gemacht hatten!